Augen auf am Wahlabend

Sarah Wagner, M.A.

Ein Erdrutschsieg für Joe Biden? Ein erneuter Sieg von Donald Trump? Ein knappes Rennen, welches erst durch den Supreme Court entschieden wird? Die aktuellen Wahlkampfanalysen und –prognosen spiegeln eine ganze Bandbreite an Einschätzungen wider und versuchen, die US-Wahl im Kontext der Corona-Pandemie und der sich fast täglich ändernden Wahlgesetze der Bundesstaaten zu erfassen. Kein leichtes Unterfangen, schwingt doch häufig auch die Sorge mit, wichtige Entwicklungen in der Wählerschaft oder den Umfragen zu verpassen – und somit wie 2016 vom Wahlausgang überrascht zu werden. Welche Entwicklungen sind also in diesem Wahljahr von Interesse und können Aufschluss über den Wahlausgang geben?

Ein paar allgemeine Bemerkungen vorweg: 2020 ist nicht 2016. Für die Amerikaner*innen ist eine Trump-Präsidentschaft kein abstraktes Gedankenspiel mehr, sondern seit knapp vier Jahren Realität. Der Vorsprung von Joe Biden in den Umfragen ist größer und stabiler als es der von Hillary Clinton 2016 war, Drittkandidaten erhalten weitaus weniger Aufmerksamkeit und Zustimmung in den Medien und Umfragen als noch vor vier Jahren und die Umfragewerte in den einzelnen Distrikten entsprechen denen der Bundesstaaten bzw. auf der nationalen Ebene (Dave Wasserman 2020). Joe Biden ist auch nicht Hillary Clinton, er ist beliebter und verzeichnet höhere Zustimmungswerte. Seine Kampagne nimmt Spendeneinnahmen in Rekordhöhe ein und bietet der Trump-Kampagne selbst in Texas Paroli. Doch Finanzkraft und Zuversicht bescheren keinen automatischen Wahlsieg, es kommt am Ende auf wenige Staaten und die dortige Wählermobilisierung an. 

Die Wähler*innen

Am Wahlabend und während den Auszählungen wird es auch detailliert um die verschiedenen Wählergruppen in den USA gehen. Religion, Geschlecht, Ethnie, Bildungsgrad und viele weitere Differenzierungen werden hier bemüht, um den Wahlausgang in den Staaten zu erklären. Die Demokraten hoffen in den Vororten, vor allem in denen der Großstädte (metro-suburbs) auf eine Fortsetzung des Trends der Zwischenwahlen 2018: Frauen. Frauen verzeichnen eine durchgehend höhere Wahlbeteiligung als Männer und haben sich in den letzten Jahren verstärkt der Demokratischen Partei zugewandt, ein gutes Abschneiden ist hier für die Demokraten unabdingbar. Die Desillusion vieler konservativer Frauen in diesen Vororten in Bezug auf Trump und deren Wählerwanderung zu den Demokraten erklärt auch, warum sich der Präsident nahezu panisch an diese Wählergruppe in den letzten Wochen des Wahlkampfes wendet. Eine weitere Gruppe, auf die das Biden-Team ein Auge geworfen hat, sind Senior*innen – hier vor allem in dem heiß umkämpften Swing State Florida. Traditionell können sich die Republikaner auf ältere Wähler*innen verlassen, doch diese Beziehung wird durch die Corona-Pandemie auf eine harte Probe gestellt. Vier von fünf an Covid-19 gestorbene Amerikaner*innen waren über 65 Jahre alt, diese Altersgruppe stellt Donald Trump auch ein schlechtes Zeugnis hinsichtlich seines Krisenmanagements während der Pandemie aus. 2016 gewann Trump Senior*innen noch mit sieben Prozentpunkten Vorsprung, mittlerweile hat Joe Biden ihn in dieser Kategorie deutlich überholt. Da diese Gruppe auch verlässlich wählen geht und ein bedeutendes Wählersegment darstellt (ca. 25% der Wählerschaft) bedeutet dieser Umschwung in der Zustimmung ein Problem für Donald Trump.

Diesen Entwicklungen, Frauen und Senior*innen, stehen aber Wählertrends gegenüber, die weniger zum Vorteil der Demokraten sind. 32 Millionen Latinos sind 2020 wahlberechtigt, die Wählergruppe spielt vor allem in Staaten wie Florida, Texas, Nevada und Arizona eine wichtige Rolle. Traditionell verzeichnen Latinos im Vergleich zu anderen Wählergruppen eine eher schwächere Wahlbeteiligung, doch in diesem Jahr könnte sich das angesichts der hohen allgemeinen Wahlbeteiligung ändern. Eine Mehrheit dieser Gruppe tendiert zwar zu den Demokraten, doch Joe Biden kann momentan noch nicht an die Zustimmungswerte von Hillary Clinton unter Latinos anknüpfen. In Florida liefern sich Biden und Trump ein enges Rennen um die Zustimmung dieses wachsenden Wählerblocks. Und auch unter schwarzen Wählern, eine traditionelle Wählerklientel der Demokraten, blickt die Biden-Kampagne mit leichter Sorge auf junge schwarze Männer. Denn diese werden von der Trump-Kampagne nicht nur umworben, sondern sollen durch spezifische Werbeanzeigen und –kampagnen auch davon abgehalten werden, für die Demokraten zu stimmen. Es geht also nicht in erster Linie darum, unter dieser Wählergruppe eine Mehrheit zu gewinnen, sondern den Abstand zu den Demokraten wenigstens leicht abzuschmelzen. Denn besonders in wichtigen „battleground states“ wie Pennsylvania und Michigan hängt der Wahlerfolg der Demokraten auch von dieser Wählergruppe ab. Der Besuch von Barack Obama in Flint, Michigan, war daher ein weiterer Versuch der Kampagne, junge schwarze Männer zu mobilisieren. Auch hier schwingt das Trauma von 2016 mit – die Desillusionierung unter schwarzen Wählern sorgte für eine geringere Wahlbeteiligung dieser Gruppe; eine Entwicklung, die die Partei 2020 unbedingt vermeiden möchte.

Die Wahlbeteiligung

Beobachter*innen gehen von einer hohen Wahlbeteiligung in diesem Jahr aus. Das Umfrageinstitut Gallup gibt an, dass 69% der Amerikaner*innen enthusiastischer als in vorherigen Jahren sind; 2016 gaben nur 50% an, der Wahl gegenüber enthusiastisch eingestellt zu sein. Unter Demokraten ist dieser Wert höher als unter Republikanern, 75% geben hier an, dass sie mit mehr Enthusiasmus als gewöhnlich in die Wahl gehen werden, unter Republikanern sind es 66%. Dieser Enthusiasmus der Demokraten basiert allerdings eher auf dem Wunsch, Donald Trump abzuwählen als auf der Begeisterung gegenüber dem eigenen Kandidaten.

Da in den USA auch schon vor dem eigentlichen Wahltag abgestimmt werden kann („early voting“), entweder durch Briefwahl oder Stimmabgabe im Wahllokal, zeichnet sich schon jetzt eine hohe Wahlbeteiligung ab. In Texas wurden mehr Stimmen vor dem Wahltag abgegeben, als 2016 insgesamt im Staat abgegeben wurden. Mehr als 9 Millionen Stimmen wurden schon vermerkt, 2016 wählten insgesamt knapp 9 Millionen Texaner*innen. Das Team von Five Thirty Eight geht ebenso von einer weitaus höheren Wahlbeteiligung im Vergleich zu 2016 aus, es wird aktuell mit 154 Millionen Wähler*innen gerechnet – 2016 waren es insgesamt 137 Millionen Wähler*innen. Am Wochenende vor der Wahl (Stand: 1. November 2020) haben schon 97 Millionen Menschen in den USA ihre Stimme abgegeben. Welche Partei von einer hohen Wahlbeteiligung allerdings profitieren würde, lässt sich nicht ganz eindeutig klären. Oft wird davon ausgegangen, dass eine hohe Wahlbeteiligung vor allem den Demokraten nützt, da es oftmals junge Wähler*innen aus marginalisierten Gruppen sind, die nicht so regulär an Wahlen teilnehmen und als Nichtwähler*innen in die Statistik eingehen. Allerdings ist auch ein entscheidender Anteil an Wähler*innen unter Nichtwählern dem Trump-Lager zuzuordnen: weiße Wähler*innen ohne College Abschluss. Auch geben einige Analysten zu bedenken, dass die Zwischenwahlen 2018 von einigen Vertreter*innen dieser Gruppe ausgesetzt wurden und es in einem Präsidentschaftswahljahr wieder zu einer höheren Wahlbeteiligung dieser Gruppe kommen könnte. Dies ist vor allem relevant im Kontext des Electoral Colleges in umkämpften Staaten wie Michigan oder Pennsylvania, wo diese Wählergruppe einen hohen Einfluss auf den Wahlausgang besitzt.

Let’s Count

Am Wahlabend dürften die Augen vor allem auf Florida und Pennsylvania gerichtet sein, die Staaten, die einen guten Einblick in den Verlauf des Rennens ermöglichen. Florida verteilt nicht nur eine hohe Anzahl an Wahlstimmen (29), sondern verteilt diese auch meist aufgrund von hauchdünnen Unterschieden im Wahlergebnis. Ein echter Swing State eben. Und auch Pennsylvania, mit 20 Wahlstimmen, ist wichtig für beide Kampagnen. Wann jedoch die Ergebnisse in beiden Staaten feststehen, könnte sich drastisch unterscheiden. Denn während Florida die Stimmen der Briefwahl mit einer längeren Vorlaufzeit verarbeiten kann, darf Pennsylvania mit der Verarbeitung der Stimmen erst am Wahltag selbst beginnen.

Die Variablen

Was diese Wahl von anderen Wahlen unterscheidet, ist natürlich auch der Kontext, in dem sie stattfindet. Die Corona-Pandemie wütet weiter ungebremst in den USA, an einem Tag wurden mittlerweile schon 99.000 Infektionen verzeichnet, ein neuer Höchststand. Bedingt durch diese Entwicklungen kam es auch in vielen Staaten zu einer Ausweitung der Briefwahl und einer damit verbundenen höheren Belastung der Infrastruktur vor Ort. In über 44 Staaten laufen zudem momentan über 300 Klagen und Verhandlungen, die sich mit den individuellen Wahlgesetzen und –abläufen in den Einzelstaaten befassen. Gestritten wird hier um Deadlines, Wahllokale, Briefmarken für die Briefwahl, die Anzahl und Orte der „drop-off-boxes“ für Wahlzettel und viele weitere Aspekte der Wahl. Republikanische Bemühungen, restriktivere Gesetze und Auslegungen der Wahlgesetzgebung durchzusetzen, könnten sich in einem engen Rennen als wahlentscheidend erweisen. In den Berkeley News heißt es zu dieser Entwicklung: „Republicans have won the popular vote in a presidential election only once since 1992 —with the re-election of George W. Bush in 2004. In 2000 and 2016, they lost the popular vote, but won in the Electoral College. They understand that America’s increasing diversity works against them, and increasingly, they’ve answered by trying to discourage or block voters in swing states with significant minority populations.” Diese Entwicklung und auch der Ablauf der Wahl werden übrigens auch von der OSZE beobachtet, die im Anschluss an die US-Wahl ihren eigenen Bericht veröffentlichen wird. Auch wenn die Chancen für Joe Biden gut stehen, entschieden ist die Wahl noch nicht.