Atlantische Themen 1/2020: Herausforderungen und Chancen der transatlantischen Beziehungen

Das Jahr 2019 stand in Rheinland-Pfalz im Zeichen eines Jubiläums, das zuvor in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt und auch unter Historikern nur wenig rezipiert wurde. Die erste amerikanische Militärpräsenz im Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz fand nicht wie häufig in Publikationen vertreten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs statt, sondern bereits nach dem Ersten Weltkrieg. Zwischen 1919 und 1923 besetzten US-Truppen weite Gebiete im Norden des heutigen Rheinland-Pfalz.

Anlässlich der Feierstunde des rheinland-pfälzischen Landtags "100 Jahre amerikanische Präsenz an Rhein und Mosel" hat der Direktor der Atlantischen Akademie, Dr. David Sirakov, eine Rede zu den transatlantischen Beziehungen und zur politischen Bildung im transatlantischen Raum gehalten, die nun in unserer Reihe "Atlantische Themen" erscheint:

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Meine sehr vereehrten Damen und Herren,

vielen Dank für die Möglichkeit, anlässlich dieser Feststunde meine Gedanken zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft der transatlantischen Beziehungen und zur politischen Bildung im transatlantischen Raum mit Ihnen zu teilen. Es ist mir aus zwei Gründen eine besondere Ehre und zugleich ein besonderes Anliegen. Zum einen sind wir in der Atlantischen Akademie seit geraumer Zeit mit dem Thema 100 Jahre amerikanische Präsenz im heutigen Rheinland-Pfalz befasst und in die unterschiedlichen Überlegungen und Vorhaben zu diesem Jubiläum eingebunden. Zum anderen fällt dieses Jubiläum in eine Zeit, in der die transatlantischen Beziehungen großen Herausforderungen gegenüberstehen.

Aus beiden Anlässen folgt meines Erachtens, über die Notwendigkeit zu sprechen, die transatlantischen Beziehungen neu zu denken und gerade hierbei den jungen Generationen die Möglichkeit zu geben, ihre eigenen - neuen - transatlantischen Narrative zu bilden.

Doch gerade zu Zeiten eines angespannten Verhältnisses ist es wichtig, Erinnerungspunkte zu setzen, ohne zu vergessen, wie sich die damaligen Lehren in die aktuelle Zeit übersetzen lassen.

Ich möchte Ihnen daher zunächst in aller gebotenen Kürze ein paar für unsere Bildungsarbeit im transatlantischen Raum zentrale Erkenntnisse darstellen, die sich an dem heute hier in Mainz begangenen Jubiläum festmachen können.

Die Entwicklung der US-Außen- und Sicher­heits­politik

Betrachtet man die vergangenen 100 Jahre, so kann man entlang der US-Präsenz in Rheinland-Pfalz und zwischen 1919 und 1923 in der Region des heutigen Rheinland-Pfalz die Entwicklung der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik wie in einem Brennglas ablesen. Das Zustandekommen, der Verlauf und das Ende der Besatzungszeit nach dem Ersten Weltkrieg war geradezu symptomatisch für die damalige US-Außen- und Sicherheitspolitik und zugleich ist sie – insbesondere auf individueller Ebene betrachtet – Teil des späteren Wandels des außenpolitischen Selbstverständnisses.

„The world must be made safe for democracy” – Mit diesem Satz versuchte der 28. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Woodrow Wilson, am 4. April 1917 die versammelten Abgeordneten und Senatoren im Kongress vom Eintritt in den Krieg gegen Deutschland zu überzeugen. Und es gelang ihm.

Was Wilson allerdings nicht gelang, war mit seiner Idee eines liberalen Internationalismus gegen den zu dieser Zeit in der amerikanischen Politik und Gesellschaft tief verwurzelten Isolationismus anzukommen. Die Monroe-Doktrin und dabei insbesondere das Prinzip der Nichteinmischung blieb auch weiterhin die Grundlinie amerikanischer Außen- und Sicherheitspolitik. Der Widerstreit zwischen dem nach außen Strebenden, ja der ur-amerikanischen Idee des American Exceptionalism, und dem nach innen gekehrten, trat in jener Zeit immer wieder zu Tage. Der gescheiterte Völkerbund ist ein Ausweis dieses Umstands.

Ein anderer Ausweis ist gewissermaßen aber auch die Besatzung zwischen 1919 und 1923, die zunächst noch das Gebiet um die Städte Trier, Bernkastel, Wittlich und Kyllburg umfasste und sich ab Juli 1919 nordöstlich zu den Städten Cochem, Ahrweiler, Andernach, Neuwied, Montabaur und natürlich Koblenz verschob.

Die überwiegende Zahl der amerikanischen Soldaten, die sogenannten Doughboys, verband mit dem 1919 über das Kaiserreich errungenen Sieg die Vorstellung, dass einer zeitnahen Etablierung einer Demokratie in Deutschland die ebenso schnelle Rückkehr nach Hause folgen würde. Und zudem die Hoffnung, am besten nie wieder nach Europa kommen zu müssen, um dort Konflikte zu lösen. Das Fraternisierungsverbot ist dabei ein Indiz, dass auch die Generalität zunächst von einer nur kurzen Verweildauer ausgegangen ist.

Es wurden letztlich vier Jahre, in den bereits nach wenigen Monaten das Fraternisierungsverbot durch General Henry T. Allen aufgehoben wurde. Es entstanden enge Freundschaften, Liebesbeziehungen und ein intensiver Kulturaustausch, der Jazz, Baseball, Boxkämpfe, Kaugummi, Pancakes und Coca-Cola an den Rhein brachte.

Doch letztlich zogen die US-Truppen 1923 gerade aufgrund der schwindenden Unterstützung für die Besetzung in den USA ab und überließen den französischen Truppen das Feld. Die Monroe-Doktrin obsiegte ein weiteres Mal. Vorerst. Denn die Zeit in Deutschland war auch prägend für Personen, die sich später an entscheidenden Positionen wiederfanden.

Einer von Ihnen war Adjutant von John Pershing, des Oberbefehlshabers der US-Streitkräfte. Gemeint ist George C. Marshall, erster Fünfsterne-General der US Army, Außen- sowie späterhin Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten und – dafür wohl am bekanntesten – zentraler Verfechter und Namensgeber des Marshall-Plans.

Ein weiterer Protagonist des Wandels amerikanischer Außen- und Sicherheitspolitik war der ebenfalls mit fünf Sterne höchstdekorierte General Douglas MacArthur, der nach dem Ende des Ersten Weltkrieges als Brigadegeneral mit seinem Stab in Sinzig in der Villa Schönberg untergebracht war und sich dort in die Tochter des Hauses verliebte. Nach seiner Rückkehr 1919 in die USA schrieb er noch bis 1921 Liebesbriefe an jene junge Frau, die ihm aber nicht in die USA folgen wollte. MacArthur wurde bekannt als Oberbefehlshaber der Besatzungstruppen in Japan.

Und nicht zuletzt der kommandierende General der US-Truppen in Deutschland, Henry T. Allen, selbst. Er setzte sich nicht nur für ein ausgeglichenes, friedliches Verhältnis zwischen Besatzungsmacht und Bevölkerung ein, sondern gründete nach seiner Rückkehr in die USA den General Henry T. Allen Fund, der Geld für bedürftige Kinder im Rheinland sammelte und bis heute Zahlungen leistet. Zum Abzug der amerikanischen Truppen schrieb General Allen: „Ich bin zuversichtlich, dass dieser von unseren Verbündeten gelobte Geist der Gerechtigkeit und Fairness in den kommenden Tagen ein Gefühl der Bitterkeit oder des Grolls gegenüber uns in den Köpfen derer, unter denen wir gelebt haben, verhindert und einen weiteren Schritt zur Verwirklichung eines echten Friedens darstellt.“

Allen sollte bedauerlicherweise nicht Recht behalten, gleichwohl formulierte er damit die Hoffnung auf die Entfaltung einer weichen, zur harten, militärischen Stärke wie die zweite Seite einer Medaille stehenden Macht. Der Politikwissenschaftler Joseph Nye formulierte deutlich später ein auf dieser Überlegung basierendes Konzept – das der Soft Power, also der „Anziehungskraft einer Kultur, ihrer Grundwerte, ihrer Stärken und der in ihr gewachsenen Institutionen“.

Die drei zuvor genannten Generäle stehen damit stellvertretend für einen entscheidenden Wandel der US-Außen- und Sicherheitspolitik, in dessen Folge dem Prinzip der Nicht-Einmischung abgeschworen wurde und sich die Vereinigten Staaten als Weltordnungsmacht definierte, die eben nicht nur ihre militärische Stärke betont, sondern sich auch über die weichen Elemente ihrer Macht im Klaren ist und sie einzusetzen versteht.

Die Folgen dieses Wandels zeigen sich in der Entstehung von Institutionen wie den Vereinten Nationen, der NATO, der Welthandelsorganisation oder der Weltbank. Und sie sind bis heute insbesondere in Rheinland-Pfalz in Form der Militärpräsenz zu sehen, die auch über das Ende des Ost-West-Konfliktes hinaus besteht und damit die weltweite Machtprojektion der sich als Weltordnungsmacht verstehenden Vereinigten Staaten von Amerika deutlich veranschaulicht.

Dabei ist Rheinland-Pfalz aber eben nicht nur ein Beispiel für die harte, militärische Macht der USA, sondern auch und gerade ein Beispiel für das freundschaftliche Miteinander von Amerikaner*innen sowie den Deutschen, den intensiven kulturellen Austausch und die Bedeutung des direkten Kontakts zu- und miteinander.

Lehren aus der Geschichte der US-Präsenz

Womit ich zu den Lehren aus den vergangenen 100 Jahren transatlantischer Beziehungen und US-Präsenz im heutigen Rheinland-Pfalz kommen möchte. Dabei sind meines Erachtens vor allem zwei Begriffe zwingend: Begegnung und Bildung.

Wenn die letzten 100 Jahre transatlantische Beziehungen mit ihren vielen Höhen, aber auch den dunkelsten Stunden etwas gezeigt hat, dann folgendes: Das Wissen von- und übereinander ist eine Grundvoraussetzung für ein friedliches Miteinander.

Das Interesse daran zu wecken und die Möglichkeiten zu bieten – das ist der Antrieb der Bildungsarbeit von Institutionen wie der Atlantischen Akademie, dem Museum Westerwald, dem Institut für Geschichtliche Landeskunde, dem Pädagogischen Landesinstitut uvm.

Es sind die Begegnungen, der direkte Austausch, die das Potenzial zu einer friedlichen und freundschaftlichen Koexistenz haben. Mit dem Programm „Willkommen in Rheinland-Pfalz! Unsere Nachbarn aus Amerika“, das wir im Auftrag und mit zentraler Unterstützung des Ministeriums des Innern und für Sport durchführen, nutzen wir das in Rheinland-Pfalz als dem transatlantischsten aller Bundesländer vorhandene Potenzial, bringen Deutsche und Amerikaner*innen zusammen und helfen bei der Integration der Militärfamilien in die rheinland-pfälzischen Kommunen. Der Erfolg dieses Programms spricht für sich und zeigt, wie groß der Wunsch nach Austausch auf beiden Seiten ist.

Und wir sollten den Austausch noch weiter stärken. Gerade in Zeiten politischer Spannungen ist dies von besonderer Bedeutung. Dabei denke ich nicht nur an den Austausch hier vor Ort, sondern auch die Möglichkeiten, für Schüler*innen und Student*innen in die USA zu gehen und dieses Land kennenzulernen. Gerade hier geben die Zahlen Anlass zur Sorge. So ist die Zahl der deutschen Studierenden, die sich für ein Studium in den USA entschieden haben, von 2017 auf 2018 um 8,5 Prozent gesunken.

Die Implikationen sind gleichwohl weitreichender: Die Soft Power der USA und damit ihre Anziehungskraft scheint abzunehmen und das Interesse der jungen Generation schwindet, sich mit den USA zu beschäftigen. Dies hat negative Auswirkungen auf beide Seiten!

Denn Ängste und Vorurteile entstehen dort, wo Begegnungen und gegenseitiges Kennenlernen dem Hörensagen weichen. Dort, wo der Rückschritt in den Isolationismus den Realitäten einer miteinander verwobenen Welt nicht Rechnung trägt, sondern Lösungen für komplexe Probleme in einem simplen WIR GEGEN DIE münden.

Dann ist die Hochphase von Populisten jedweder Couleur gekommen. Nämlich immer dann, wenn politische Akteure erstarken, die Gesellschaften spalten, indem sie zwischen einem vermeintlichen wahren Volk und einer irgendwie gearteten korrupten Minderheit unterscheiden und sich schließlich als Volkes Stimme gerieren und damit Andersdenkende zu delegitimieren versuchen.

Immer dann, wenn die pluralistische Grundidee unserer Demokratien zugunsten eines Alleinvertretungsanspruchs weichen soll, ist friedliche Koexistenz gefährdet – im Innern wie nach außen. Totalitäre Regime wie der Nationalsozialismus haben das ebenso eindrücklich gezeigt wie autoritäre Staaten.

Und die politischen Entwicklungen in den meisten hoch-entwickelten Industrienationen zeigen ebenso eindrücklich, dass die Anziehungskraft anti-demokratischer Vorstellungen nicht notwendigerweise sinkt.

Und deshalb müssen wir uns vor allem auf die jüngeren Generationen in Deutschland wie in den USA konzentrieren.

Einer Umfrage des World Value Survey zufolge sehen es lediglich 54 Prozent der in den 1990er Jahren geborenen Deutschen als sehr gut an, in einem demokratischen System zu leben. In den USA ist dieser Wert sogar nur bei knapp 30 Prozent. Die Notwendigkeit und angemessene Ausstattung von politischer Bildung sollte angesichts solcher Zahlen kaum mehr ernsthaft in Frage gestellt werden.

Doch wie muss die politische Bildung im Bereich der transatlantischen Beziehungen aussehen?

Für neue transatlantische Narrative

Immer dann, wenn die Begegnung und der Austausch zwischen Amerikaner*innen und Deutschen möglich waren, entwickelten sich gute Beziehungen, die auch die eine oder andere Krise überwanden.

Dazu gehörte auch, dass die jeweiligen Generationen die Möglichkeiten hatten oder sich schließlich erkämpften, ihre ganz eigenen transatlantischen Narrative zu bilden. Doch auf die Möglichkeiten der heutigen jungen Generation, eben diese eigenen Narrative zu entwickeln, sehe ich mit einer gewissen Skepsis – und das hat weit weniger mit dieser Generation selbst, sondern vielmehr mit der Ausgangssituation und der bisweilen überbordenden Argumentationsmacht der vorherigen Generationen zu tun.

Nach dem Ende des Kalten Krieges haben sich die transatlantischen Beziehungen fundamental geändert. Der den Atlantik überspannende Ost-West-Konflikt, der einst als transatlantischer Kleber diente, wurde durch neue und überwiegend asymmetrische Bedrohungen ersetzt, die sehr unterschiedlich wahrgenommen und bewertet werden. Dies beeinflusst nicht nur die Außen-, Sicherheits- und Handelsbeziehungen, sondern auch die Beziehungen zwischen den Gesellschaften auf beiden Seiten des Atlantiks.

Vor allem jüngere Generationen können sich kaum noch mit dem ritualisierten Vortrag von Kennedys „Ich bin ein Berliner“ und Reagans „Tear down this wall“ oder dem kollektiven Gedächtnis an den Marshall-Plan und die „Rosinenbomber“ identifizieren. Daher ist ein entscheidender Faktor zur Stärkung der transatlantischen Beziehungen nicht nur die gegenseitige Versicherung gemeinsamer Werte, sondern in der heutigen Zeit die Verteidigung derselben. Dabei fordert die junge Generation zu Recht auch den offenen und kritischen Diskurs über die noch vorhandene Substanz dieser vielzitierten Werte ein.

Und dies führt auch zu neuen politischen Narrativen, die nicht zwangsläufig – wie in der Vergangenheit geschehen – aus dem Politischen in das Gesellschaftliche dringen, sondern auch aus dem Gesellschaftlichen erwachsen können und – angesichts fehlender Alternativen – auch sollten. Und es gibt sie: Fridays for Future, Scientists for Future, Women’s March, March of Science, March for our Lives

Was politische Bildung hier leisten muss, ist die ernsthafte, offene und kritische Auseinandersetzung mit den vorgebrachten Feststellungen, Befürchtungen und Erwartungen sowie die politisch-bildnerische Unterstützung, um daraus neue transatlantische Narrative zu bilden.

Dies braucht eine auf Augenhöhe stattfindende Diskussion, sei es bspw. über die Ängste angesichts eines fortschreitenden Klimawandels oder aber auch über die Frage, wie angesichts einer an Krisenerscheinungen leider nicht armen Welt eine neue und erweiterte Verantwortung für die europäische und damit auch die deutsche Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik aussieht.

Die Aufgaben und Herausforderungen für die transatlantischen Beziehungen sind riesig, ebenso wie die Chancen, die ihnen innewohnen. Und noch wichtiger: Wir können sie meistern!

Rheinland-Pfalz kann und sollte angesichts seiner transatlantischen Geschichte, Gegenwart und Zukunft dabei im Zentrum einer solchen Diskussion stehen. Die Vielzahl an Vortragsveranstaltungen und Ausstellungen im Rahmen des Jubiläums "100 Jahre amerikanische Präsenz in Rheinland-Pfalz" sowie die Arbeit von Institutionen wie der Atlantischen Akademie oder des Programms "Willkommen in Rheinland-Pfalz!" machen dies überaus deutlich.

Doch bleibt noch viel zu tun und ich lade Sie alle herzlich ein, diese Arbeit zu unterstützen.

Ich möchte mit einem der berühmtesten Zitate aus der Feder Thomas Jeffersons schließen, die wohl nur im Original ihre ganze Wirkung entfaltet: “We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.“

Lassen Sie uns diese Worte Erinnerung und Verpflichtung zugleich sein!

Vielen Dank!