Zwischen Gender Wars und Cancel Culture: Fortschritt und Backlash in den USA

von Janna Uhry-Ganz, M.A.


Die erste Schwarze Frau am Obersten Gerichtshof

Am 23. März 2022 erlag Madeleine Albright mit 84 Jahren einem Krebsleiden. Die Demokratin ging als erste Außenministerin der Vereinigten Staaten in die Geschichte ein und gilt als feministische Ikone. Während Albrights Leben endete, fand die mehrtägige Anhörung von Ketanji Brown Jackson im Senat statt: Im Februar hatte Präsident Joe Biden die Richterin für die Nachfolge des scheidenden Richters Stephen Breyer nominiert und damit sein Wahlversprechen eingelöst, eine Schwarze Frau für das höchste Gericht der Nation auszuwählen. Seit mehr als 200 Jahren wird der U.S. Supreme Court von Männern beherrscht: Von 115 Richter*innen waren 108 weiß und männlich. Brown Jacksons Bestätigung galt bereits als sehr wahrscheinlich, da jede*r von Biden vorgeschlagene*r Kandidat*in im paritätisch besetzten Senat mit 50 Demokratischen Stimmen und der Stimme von Vizepräsidentin Kamala Harris bestätigt werden kann – selbst dann, wenn keine Republikaner*innen zustimmen. Am siebten April wurde Ketanji Brown Jackson als Supreme Court-Richterin bestätigt und wird nun als die dritte Schwarze Person am Verfassungsgericht und die erste Schwarze Frau in der Position einer Supreme Court-Richterin den Weg für mehr Diversität und Repräsentation am Obersten Gerichtshof der USA ebnen. So zumindest erhoffen es sich viele Amerikaner*innen. Nur wenige Tage nach Brown Jacksons Anhörung verabschiedete das Repräsentantenhaus einen Gesetzentwurf zur Errichtung von Statuen zu Ehren von Ruth Bader Ginsburg und Sandra Day O'Connor auf dem Gelände des US-Kapitols. O’Connor wurde 1981 die erste Frau in der Position einer Richterin am Supreme Court, Bader Ginsberg diente von 1993 bis zu ihrem Tod im Jahr 2020. Auf RBG folgte die Ernennung der konservativen Amy Coney Barrett durch Donald Trump, deren Urteile und Einfluss den hart erkämpften Fortschritt in Bezug auf Frauenrechte und Gesundheitsfürsorge um Jahre zurückwerfen könnte.

Liberalisierung und Backlash

Die Geschichte der USA macht deutlich, dass der Liberalisierung der Rechte und Selbstbestimmung von Frauen und marginalisierten Gruppen traditionell ein sogenannter Backlash folgt und dass umgekehrt aus diesen Rückschlägen stets neue Bemühungen im Kampf für Geschlechtergerechtigkeit und Menschenrechte hervorgehen. Die wohl bekannteste Analyse dieses Phänomens kommt von der amerikanischen Journalistin Susan Faludi, die Anfang der 1990er Jahre mit ihrem Buch Backlash für viele positive aber auch negative Schlagzeilen sorgte. Die Vereinigten Staaten können gegenwärtig zwar immer mehr progressiven Fortschritt vorweisen, sehen sich allerdings zeitgleich mit einer massiven Polarisierung konfrontiert, die sich auch auf feministische Kämpfe auswirkt. Dabei gibt es auch innerhalb feministischer Bewegungen Konflikte, in denen sich beispielsweise der überwiegend weiße (neo)liberale Feminismus mit intersektionalen Gruppierungen konfrontiert sieht, die sich für universale Menschenrechte sowie eine Verbündung mit anderen marginalisierten Gruppen stark machen und sich dabei von einem binären Geschlechterverständnis distanzieren. Und während diejenigen, die links im politischen Spektrum stehen, für ihre „Cancel Culture“ verurteilt werden, sorgen konservative Akteur*innen mit in neuen Gesetzesvorlagen manifestierten Zensurversuchen für starke Kritik. Die USA befinden sich in einem sogenannten Culture War, der die Spaltung des Landes auf gesellschaftlicher und kultureller Ebene deutlich macht.

Representation Matters

Nach der bitteren Wahlniederlage Hillary Clintons gegen Donald Trump im Jahr 2016, schwand für viele die Hoffnung, eine Frau als Präsidentin der Vereinigten Staaten zu erleben und es folgten vier Jahre unter einem Präsidenten, der unweigerlich einen Rückschritt für Gleichberechtigung und Toleranz in den USA bedeutete. Die Tatsache, dass Clinton nicht in der Lage war, sich gegen Trump durchzusetzen, stützt die Annahme, dass der weiße liberale Feminismus, den die erste weibliche Spitzenkandidatin für die Präsidentschaftswahlen für viele verkörperte, eine veraltete Version des Kampfes für Frauenrechte zu sein scheint. Vielmehr bringt er eigene Formen der Unterdrückung und Diskriminierung mit sich und zeigt keinen intersektionalen Anspruch, der die Lebensrealitäten und Mehrfachdiskriminierung marginalisierter Gruppen mitdenkt und repräsentiert. Als Joe Biden im August 2020 die kalifornische Senatorin Kamala Harris als seine Vizepräsidentschaftskandidatin wählte, bedeutete dies nicht nur die Aussicht auf die erste Schwarze Frau und die erste Frau asiatischer Abstammung in diesem Amt. Denn sollte Joe Biden während seiner Amtszeit ausfallen, symbolisierte sie auch die Chance auf eine U.S.-Präsidentin, die in ihrem Leben allein aufgrund ihres Geschlechts sowie ihrer ethnischen Herkunft persönliche Erfahrungen mit intersektionaler Mehrfachdiskriminierung gemacht hat. Trotz ihres ökonomisch sehr privilegierten Hintergrunds war die Nominierung von Kamala Harris als Kandidatin für die Vizepräsidentschaft ein Moment, den vor allem Frauen als einzigartig in der amerikanischen politischen Geschichte wahrnahmen und in dem die Macht der Schwarzen Wähler*innen einen Höhepunkt erreichte. Nach der Niederlage Hillary Clintons 2016 und den antifeministischen und rassistischen Rückschlägen, die Donald Trumps Sieg mit sich brachte, bedeutete eine Schwarze Vizepräsidentin einen nachhaltigen Riss in der gläsernen Decke und stellte einen Hoffnungsschimmer für viele Frauen und marginalisierte Gruppen dar.

Im goldenen Zeitalter des Protests

Nach dem ersten Amtsjahr von Präsident Biden und Vizepräsidentin Harris sind die Umfragewerte beider erheblich gesunken und viele anfängliche Hoffnungen weitgehend zerschlagen. Kamala Harris‘ Job war bisher kein leichter und ihre Beliebtheitswerte sind im Keller, während sich das Land in verschiedenen Bundesstaaten von Republikanisch-konservativer Seite mit der Zensur von Büchern, Gesetzentwürfen zur Einschränkung sexueller Aufklärung an Schulen, verschärften Abtreibungsgesetzen und Beschränkungen im Schulsport für Transgender-Jugendliche konfrontiert sieht. Unter dem Deckmantel der Bewahrung konservativer Werte müssen diese Bemühungen zur Eindämmung liberaler Freiheiten als ein Angriff gegen die Rechte marginalisierter Gruppen gewertet werden, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, ihres Geschlechts, ihrer Geschlechteridentität und anderen Faktoren diskriminiert werden. Während juristische Erfolge gegen das Recht auf Selbstbestimmung Rückschläge gegen feministische Erfolge bedeuten, so bringen gerade diese Rückschläge neue Bemühungen und Bewegungen im Kampf für Geschlechtergerechtigkeit und Menschenrechte hervor. Dies zeigt beispielsweise der eklatante Anstieg an Menschen- und Frauenrechtsdemonstrationen, die die Präsidentschaftsjahre Trumps zum goldenen Zeitalter des Protests machten und mehr Demonstrant*innen auf die Straßen trieben als zu jedem anderen Zeitpunkt in der Geschichte der USA. Die Tatsache, dass zwei Jahre nach Hillary Clintons Wahlniederlage die meisten weiblichen Kongressabgeordneten der Geschichte des Landes gewählt wurden, zeugt ebenfalls von einer aktiven Zivilgesellschaft.

Die Zukunft ist divers

Ketanji Brown Jackson wird nun die erste Schwarze Frau im Obersten Gericht der Vereinigten Staaten, wo sie in ihrer Arbeit die Lebensrealitäten tausender U.S.-Bürger*innen mitdenken wird, die vorher nicht oder nur eigeschränkt durch den Supreme Court repräsentiert waren. Dies ist auch ihrer Erfahrung als Plichtverteidigerin für Menschen, die einen juristischen Beistand nicht aus eigener Tasche bezahlen können, zu verdanken. Am 27. März gewann Ariana DeBose als erste queere Person of Color einen Schauspiel-Oscar als beste Nebendarstellerin und hat damit auch für gerade diejenigen jungen Menschen eine Vorbildfunktion, die aufgrund neuer konservativer Gesetzesentwürfe an ihrer Schule nicht mehr oder nur eingeschränkt über sexuelle Vielfalt unterrichtet und aufgeklärt werden dürfen. 2010 sagte Madeleine Albright in einem Interview: „Ich habe ziemlich lange gebraucht, um eine Stimme zu entwickeln und jetzt, da ich sie habe, werde ich nicht still sein.“ DeBoses Oscar und Brown Jacksons Zukunft im Supreme Court wird Madeleine Albright nicht mehr erleben. Doch Frauen und marginalisierte Gruppen in den USA entwickeln kontinuierlich eine Stimme, die sich in hohen Ämtern und bedeutsamen Auszeichnungen manifestiert und auch durch konservative, regressive Bemühungen nicht verstummen wird.