Die unbequeme Realität – Die Demokraten und die Anschuldigungen von Tara Reade

Sarah Wagner, M.A. 

Für eine Weile sah es so aus, als ob sich die Demokratische Partei endlich dem Hauptwahlkampf stellen könnte. Der Vorwahlkampf war mit dem Ausscheiden von Bernie Sanders prinzipiell beendet, die Partei hatte sich außerordentlich schnell und eindeutig hinter Joe Biden gestellt und die als Krisenmanagement verkleideten Wahlkampfauftritte von Präsident Trump boten ausreichend Material für eine pointierte Gegenkampagne. Die Corona-Berichterstattung beanspruchte zudem die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, Raum für kritische Analysen über Joe Biden und seinen Wahlkampf fanden kaum ein Publikum. Doch dann kam Tara Reade.

Die Anschuldigungen

Tara Reade ist eine ehemalige Mitarbeiterin von Joe Biden und beschuldigt ihn, sie während ihrer Arbeit für ihn als Senator im Jahr 1993 sexuell belästigt und genötigt[*] zu haben. Joe Biden weist diese Vorwürfe zurück. Zu einem Problem sind sie für ihn und seine Kampagne dennoch geworden. Was genau ist also die bisher bekannte Sachlage? Und wie geht die Partei mit den Vorwürfen um? Doch zuerst lohnt sich ein kurzer Blick zurück:

Biden, der schon länger dafür bekannt ist, sich Frauen zu stark zu nähern, ihren „personal space“ nicht zu respektieren und sie gegen ihren Willen unangemessen anzufassen, wurde im März 2019 von Lucy Flores, einer Demokratischen Politikerin in Nevada, öffentlich für sein Verhalten kritisiert. Flores beschrieb, wie sich Biden ihr gegenüber bei einem Wahlkampfauftritt verhielt: „I felt two hands on my shoulders. I froze. […] He leaned further in and inhaled my hair. I was mortified. […] ‘Why is the vice-president of the United States smelling my hair?’ He proceeded to plant a big slow kiss on the back of my head. My brain couldn’t process what was happening. I was embarrassed. I was shocked. I was confused.“ Flores erläuterte später in ihrem Bericht: „Biden came to Nevada to speak to my leadership and my potential to be second-in-command — an important role he knew firsthand. But he stopped treating me like a peer the moment he touched me. Even if his behavior wasn’t violent or sexual, it was demeaning and disrespectful.”

Flores betonte weiterhin, dass sie nur eine von vielen Frauen sei, denen sich Biden in dieser Art und Weise genähert habe und es sie frustriere, dass dieses Verhalten von der Öffentlichkeit toleriert werde und keine Bedrohung für seinen Ruf als beliebten „Onkel Joe“ darstelle. Joe Biden, der zu diesem Zeitpunkt seine Kandidatur als Präsidentschaftskandidat noch nicht verkündet hatte, antwortete auf die Anschuldigungen in einem Statement. Darin erklärte Biden, „not once — never — did I believe I acted inappropriately”, aber dass er sich bewusst darüber sei, dass die Zeiten sich geändert hätten und gelobe, aus dieser Erfahrung zu lernen: „We have arrived at an important time when women feel they can and should relate their experiences, and men should pay attention. I will.”

Der Beitrag von Flores, den sie online in The Cut veröffentlichte, war auch ein Ansporn für Tara Reade, ihre Geschichte öffentlich zu machen. Daher gab es schon im letzten Jahr einen Bericht von ihr, dass Biden sie 1993 am Nacken berührt und ihr durch die Haare gefahren sei. Im März 2020 war Tara Reade dann zu Gast im Podcast von Katie Halper und  berichtete dort das erste Mai detailliert über einen sexuellen Übergriff, den sie 2019 noch nicht erwähnte.

Tara Reade gibt an, dass der damalige Senator Joe Biden sie im Jahr 1993 sexuell genötigt („sexual assault“) habe. Auch beschreibt sie sein Verhalten ihr gegenüber ähnlich wie Lucy Flores. Reade erläutert, dass sie in diesem Kontext eine Beschwerde an das Senate Personnel Office eingereicht habe. Allerdings ist hier noch unklar, wie genau diese Meldung formuliert wurde und welche Anschuldigungen sie genau beinhaltet. In den Worten von Reade: "I filed a complaint re sexual harassment and retaliation but I am not sure what explicit words on that intake form until we all see it again. [T]he main word I used — and I know I didn’t use sexual harassment — I used ‘uncomfortable.’ And I remember ‘retaliation.’” 

Zudem habe sie sich bei ihren Vorgesetzten über „problematic conduct“ von Biden beschwert. Ehemalige Mitarbeiter von Joe Biden weisen diese Aussage zurück und geben an, zu keinem Zeitpunkt eine Beschwerde über Senator Biden erhalten zu haben. Gleichzeitig bestätigen Freunde und Familienmitglieder von Reade ihre Version der Ereignisse. An dieser Stelle soll es nicht darum gehen, den Wahrheitsgehalt der Aussagen von Reade und Biden zu prüfen, handelt es sich doch um ein schwieriges Unterfangen, selbst für US-Journalisten. Interessierte finden Podcasts und einschlägige Besprechungen bei The Intercept, der New York Times, Forbes sowie USA Today. Vielmehr geht es um eine kurze mediale und parteipolitische Einordnung der Entwicklungen.

Die Medien

Mittlerweile beschäftigen sich auch die großen Zeitungen und Kanäle mit den Vorwürfen von Frau Reade. Zwar teils noch sehr vorsichtig, aber zumindest mit einer größeren Intensität, als sie dies zum Beispiel im Fall von Juanita Broaddrick taten. Broaddrick warf Bill Clinton vor, sie 1978 vergewaltigt zu haben. Als diese Vorwürfe im Vorfeld und während des Wahlkampfes 2016 erneut laut wurden, fanden sie medial sowie bei den Demokraten wenig Beachtung. Ein Grund war sicherlich, dass der Kandidat der Republikaner, Donald Trump, sich selbst mit zahlreichen Anschuldigungen konfrontiert sah und die Demokraten ihre eigene Kandidatin schützen wollten. Doch instrumentalisierten Trump und seine Kampagne die Vorwürfe von Broadderick ungeniert und verhalfen ihnen dadurch zu einem Mindestmaß an medialer Aufmerksamkeit. Auch zum Ende der Amtszeit von Bill Clinton gab es damals nur eine unbefriedigende Aufarbeitung der Geschichte von Juanita Broaddrick, in der New York Times heißt es aktuell dazu: „[T]he handling of Ms. Broaddrick’s story was one of the most damaging media mistakes of the Clinton years.“ Fraglich ist, ob sich dieser Fehler mit Tara Reade und Joe Biden wiederholt.

Denn auf Fox News sowie konservativen Nischensendern und -sendungen wurde das Thema natürlich früh intensiv besprochen und parteipolitisch genutzt. Mittlerweile jedoch haben The New York Times und die Washington Post ausführlich über den Fall berichtet, The Atlantic verlangte in einem Beitrag, die Dokumente aus der Senatszeit von Joe Biden öffentlich zu machen, um zu prüfen, ob die Beschwerde von Reade hier zu finden sei.  Anders sieht es jedoch aus, wenn man sich die investigative (Nicht-)Arbeit der großen Fernsehsender ansieht: „According to NewsBuster’s calculations, ABC, NBC, CNN and MSNBC have all interviewed Biden recently but not one of 77 questions they asked of him between March 25 and April 27 has been about Reade’s charges. There can be no finessing around this line score: The broadcasters deferred to Biden.” Und so endet auch der Beitrag in Politico mit der Feststellung: „But Reade might end up like Juanita Broaddrick, who waited two decades to file her rape charge against Bill Clinton. She languished in the journalistic limbo of ‘she said and he denied’ with no real resolution to her case.” Joe Biden hat sich mittlerweile in einem Interview geäußert, doch die bisher [Stand 2.5.] einzige Anfrage eines Fernsehsenders für ein Interview mit Frau Reade kam von, man ahnt es, Fox News.

Joe Biden und die Demokratische Partei

Die momentane Debatte um Joe Biden beinhaltet natürlich auch eine genauere Analyse seiner bisherigen politischen Positionen und Handlungen in Bezug auf Frauen und frauenpolitische Themen. Allerdings war dies im Zuge der #MeToo Bewegung und unter progressiven Wähler*innen im Rahmen des Vorwahlkampfs auch schon länger ein Thema.  Seine Handhabung der von ihm geleiteten Senatsanhörung von Anita Hill, die 1991 Clarence Thomas sexuelle Belästigung vorwarf, wurde in diesem Kontext scharf kritisiert. Es geht also in der aktuellen Diskussion nicht nur um die politische Zukunft von Biden, sondern auch um die Frage, wie seine politischen Entscheidungen und Errungenschaften in Erinnerung bleiben werden. Daher betonen Biden, sein Team und seine Fürsprecher*innen auch unermüdlich “his work on the Violence Against Women Act, campaigns for female candidates who later joined the Judiciary Committee and work to curtail campus sexual assault as vice president”.

Die Demokratische Partei ist zum Teil zwiegespalten. Auf der einen Seite ist die oberste Priorität, das Weiße Haus im November zu erobern. Auf der anderen Seite verstehen sich die Partei und vor allem ihre Politikerinnen als Fürsprecher*innen der #MeToo-Bewegung; als Partei, die in den eigenen Reihen keine Übergriffigkeiten und keinen Sexismus duldet. Als der Demokratische Senator Al Franken (MN) 2017 von Leeann Tweeden beschuldigt wurde, sie gegen ihren Willen geküsst und angefasst zu haben, wurde ihm von der Partei kurzer Prozess gemacht. Insbesondere die Senatorin Kirstin Gillibrand (NY) verlangte den Rücktritt von Franken. Nachdem weitere Frauen von ähnlichen Vorkommnissen berichteten, gab dieser sein Amt im Januar 2018 auf. Und auch als Christine Blasey Ford gegen Brett Kavanaugh aussagte, schlug sich die Demokratische Partei auf die Seite von Blasey Ford und ging hart mit ihren Kritikern und Brett Kavanaugh ins Gericht. Gemeinsam mit Vertreter*innen von #MeToo agierte und stilisierte sich die Partei als feministische und progressive Fürsprecherin.

Die Partei steht somit aktuell vor einem Dilemma: Geht sie das Risiko ein, den eigenen Kandidaten vor der Hauptwahl womöglich zu beschädigen, indem sie eine Untersuchung einleitet bzw. den Anschuldigungen von Tara Reade zu sehr Gehör schenkt? Oder riskiert sie einen Verlust an Glaubwürdigkeit und damit auch die Unterstützung vieler Frauen und progressiver Wähler*innen? Ist der Wunsch, Donald Trump zu schlagen so groß, dass man die Vorwürfe so weit wie möglich abweist, ignoriert und einfach das Beste hofft? Die Erfolge in den Zwischenwahlen 2018 beruhten zu einem großen Anteil auf dem politischen Engagement von Frauen. Will man diese vor November frustrieren und desillusionieren?

Senatorin Gillibrand äußerte sich auf Nachfrage zu den Vorwürfen mit den Worten: „She has come forward, she has spoken, and they have done an investigation in several outlets. Those investigations, Vice President Biden has called for himself. Vice President Biden has vehemently denied these allegations and I support Vice President Biden.” Und Stacey Abrams, die auch als mögliche Kandidatin für das Amt der Vize-Präsidentin im Gespräch ist, gab an: „ I know Joe Biden, and I think that he is telling the truth and that this did not happen.” Die Ironie, dass es nun in erster Linie Politikerinnen sind, die Biden verteidigen, dürfte nicht unbemerkt bleiben. Die Washington Post hat dies ebenso bemerkt und das Editorial Board rief Joe Biden am 29. April dazu auf, sich öffentlich zu den Vorwürfen zu äußern und Einblick in seine alten Unterlagen zu gewähren. Und so kam es dann auch. Den Auftakt machte ein Beitrag von Joe Biden in Medium, in welchem er ebenso dafür plädierte, die Unterlagen über seine Mitarbeiter*innen im National Archives für die Presse freizugeben.

Am 1. Mai äußerte sich Joe Biden dann persönlich im Interview mit Mika Brzezinski vom Sender MSNBC zu den Vorwürfen. Gleich zu Beginn verneinte Biden die Anschuldigungen vehement und sagte: „No, it is not true. I am saying unequivocally it never, never happened, and it didn’t. It never happened.” Davon wich Biden trotz intensiver Nachfragen von Brzezinski nicht ab. Also alles erledigt?

Stoff für den Wahlkampf?

Eines dürfte sicher sein, die Vorwürfe von Reade werden im Wahlkampf wieder auftauchen. Denn noch weiß niemand, wie lange sich weitere Untersuchungen hinziehen werden. Wie schnell können die Dokumente im Archiv gesichtet werden? Wie entwickelt sich die öffentliche Debatte? Dazu betont Tresa Undem, eine Umfrageexpertin zum Thema Gender, in der New York Times: „If the election was held today, I don’t think he’d lose any support. But this is a huge deal that’s not going away. The story is going to be on the hypocrisy, and that is the No. 1 thing voters loathe.” Und so wird der Vorwurf der Scheinheiligkeit der Demokraten im Umgang mit Vorwürfen von sexueller Gewalt in konservativen Kreisen auch schon für den Wahlkampf genutzt.

Doch könnten die Republikaner die Vorwürfe gegen Biden wirklich so einfach zu ihrem Vorteil nutzen? Die Vergewaltigungs- und sexuellen Nötigungsvorwürfe gegen Präsident Trump sind seitenlang und werden von ihm zwar als „false accusations“ abgetan, an einer erneuten Diskussion jener Anschuldigungen dürfte aber auch die GOP nicht sonderlich interessiert sein. Dementsprechend verhalten reagierte Trump, der die Äußerungen von Reade zwar als glaubwürdig bezeichnete, gleichzeitig aber auch empfahl „I would just say to Joe Biden, ‘Just go out and fight it‘“. Doch auf diese Art der Unterstützung würden die Demokraten und Joe Biden vermutlich nur zu gerne verzichten.

 


[*] Dieser Beitrag benutzt die deutsche Übersetzung von „sexual assault“, also sexuelle/r Nötigung/Übergriff/Gewalt.