Taxation without Representation? Die Debatte um die Eigenstaatlichkeit von Washington D.C.

Christina von Jasienicki 

Status Quo

Die 702.000 Einwohner*innen von Washington D.C. sind von wesentlichen demokratischen Prozessen ausgeschlossen: Da Washington D.C. ein Distrikt und kein Bundesstaat ist, haben die Einwohner*innen zwar eine Abgeordnete im Repräsentantenhaus, diese hat jedoch kein Stimmrecht. Außerdem sind die Einwohner*innen D.C.s nicht im Senat vertreten. Das bedeutet, dass sie neben der Gesetzgebung auch kein Mitspracherecht bei der Ernennung von Beamt*innen zur Leitung von Bundesbehörden und bei der Ernennung von Richter*innen für Bundesgerichte und den Obersten Gerichtshof haben. Ähnlich geregelt ist dies bei „US-Territories“ (z.B. Puerto Rico), mit dem Unterschied, dass Bewohner*innen eines „US-Territory“ keine Einkommenssteuern auf Bundesebene zahlen müssen. Tatsächlich zahlen die Bewohner*innen D.C.s die höchste Pro-Kopf-Einkommensteuer der Nation, doch besteht bezüglich der Ausgaben dieser Steuern kein Mitspracherecht. Darum steht auf den Autoschildern der Einwohner*innen seit Anfang der 2000er der Protestspruch: „Taxation without Representation“.

Die verabschiedeten Gesetze der lokalen Regierung in D.C. müssen vom Kongress bestätigt werden bevor sie in Kraft treten. Der „District Clause“ (Artikel 1, Absatz 8, Klausel 17 der Verfassung) gibt dem Kongress die Macht „To exercise exclusive Legislation in all Cases whatsoever… “.[1] Dies hat es dem Kongress in der Vergangenheit ermöglicht, sich über die Politik der lokalen Regierung hinweg zu setzten. So schaffte es der Kongress 2007, in der Aids-Krise, ein von der Stadtverwaltung als dringend notwendig angesehenes Nadelaustauschprogram zu stoppen; er verhinderte 2011, dass Abtreibungen von einkommensschwachen Müttern finanziert werden können und versuchte 2014, die Legalisierung des Besitzes von Marihuana zu verhindern, für welche die Bevölkerung zuvor in einem Referendum gestimmt hatte.

Die Geschichte

Um die jetzige Situation von Washington D.C. zu verstehen, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit. Nach einem Aufstand 1783 in der ehemaligen US-Bundeshauptstadt Philadelphia wurde ein neues Gebiet für die Hauptstadt gesucht, in dem sie vollkommen autonom handeln konnte. Es wurde ein 10 x 10 Meilen großes Gebiet am Potomac Fluss, dass von Maryland und Virginia gespendet wurde, ausgewählt. Der „District Clause“ war ursprünglich nicht dazu gedacht, dem Kongress Verantwortung über lokale Angelegenheiten des Gebietes zu geben, sondern diente dazu, wie der Gründervater James Madison 1788 in dem Federalist-Artikel Nr. 43 schrieb, für die physische Sicherheit der Bundesregierung zu sorgen und sie von ungebührlicher Einflussnahme eines einzelnen Staates zu isolieren. Dazu Madison; “a municipal legislature for local purposes, derived from their own suffrages, will of course be allowed them” [2]. Damals gab es in D.C. nur ein paar tausend Einwohner, die vorläufig in ihren ursprünglichen Bundesstaaten wahlberechtigt blieben. 1801 wurde die Stadt in Washington County (Maryland Seite) und Alexandria County (Virginia Seite) unterteilt. Zunächst galten in den jeweiligen Counties weiterhin die Gesetze der Ursprungsstaaten, jedoch verloren rund 15.000 Bürger*innen mit der Gründung von D.C. ihr Stimmrecht in Maryland bzw. Virginia. Es gab schon früh Bemühungen und Gesetzesvorschläge, um die Regionen wieder an Maryland und Virginia einzugliedern. Es gelang in Alexandria County, wo die Menschen auf Grund von wirtschaftlicher Benachteiligung durch den Kongress unzufrieden waren, nach einem Volksentscheid und mit der Zustimmung der Virginia Regierung 1846 das Gebiet wieder in Virginia einzugliedern.

Schrittweise zu mehr Autonomität

Im 20. Jahrhundert wuchs der Drang nach mehr Gleichberechtigung in der D.C. Bevölkerung. Der erste große Erfolg kam mit der 23. Verfassungsänderung („23rd Amendment“) 1961, die der Bevölkerung bei der Wahl des*der Präsident*in und Vizepräsident*in erstmals Stimmen gewährte. 1970 bekamen die Einwohner*innen D.C.s eine*n nicht stimmberechtigte*n Abgeordnete*n im Repräsentantenhaus. Nur drei Jahre später wurde vom Kongress der sogenannte „Home Rule Act“ verabschiedet, welcher als der größte Meilenstein in der Eigenstaatlichkeitsbewegung gilt. Dieses Gesetz ermöglichte es der Bevölkerung, ihre eigene lokale Regierung zu wählen: ein*e Bürgermeister*in und einen 13-köpfigen Rat. Jedoch ist der „Home Rule Act“ mit Einschränkungen verbunden. Neben der eingeschränkten Budget- und fehlenden Legislativautonomie darf der Rat keine Gesetzte erlassen, die zuvor erlassene Gesetze des Kongresses abändern oder aufheben, die Funktionen/den Besitz der USA betreffen oder die in ihrer Anwendung nicht ausschließlich auf den Distrikt beschränkt sind. Außerdem darf D.C. keine Menschen besteuern, die zwar in D.C. arbeiten, aber nicht in D.C. leben. Es wird geschätzt, dass D.C. damit durchschnittlich mehr als zwei Mrd. Dollar in einem Finanzjahr entgehen.

Die lokale Regierung schaffte es durch den „Home Rule Act“ ihre Autonomie auszubauen. Zwar darf der Rat keine Gesetzte erlassen, die im Widerspruch zum „Home Rule Act“ stehen, jedoch hat er das Recht das Gesetz abzuändern, wenn dies vorher in einer Volksabstimmung ratifiziert worden ist. Der Änderungsvorschlag muss dem Kongress für eine 90-tägige Überprüfungsperiode vorgelegt werden und tritt in Kraft, wenn keine sogenannte „Disapproval Resolution“ von beiden Kammern verabschiedet und vom Präsidenten unterzeichnet wurde. Mit dieser Strategie schaffte es die lokale Regierung z.B. eine*n gewählte*n Justizminister*in zu etablieren und nach einem langjährigen Rechtsstreit die Budgetautonomie auszubauen. So werden die Gelder nicht mehr vom Kongress zugewiesen, sondern der Haushaltsplan wird von der lokalen Regierung ausgearbeitet und dem Kongress für eine 30-tägige Überprüfungsperiode vorgelegt.

Beim Versuch, ein Stimmrecht im Kongress zu erlangen, scheiterten jedoch die bisherigen Bemühungen seitens Washington D.C. 1978 verabschiedete der Kongress einen Vorschlag für eine Verfassungsänderung, die den D.C. Bewohner*innen volles Stimmrecht im Kongress geben sollte. Dieser scheiterte allerdings, da nicht genug Staaten der Verfassungsänderung zustimmten. Ein abgeschwächter Versuch 2007 sah vor, D.C. ein Stimmrecht im Repräsentantenhaus zu geben, wenn die Angelegenheiten, über die abgestimmt werden, die Stadt direkt betreffen. Um das politische Gleichgewicht im Repräsentantenhaus nicht zu gefährden, sollte auch Utah eine zusätzliche Vertretung im Haus erhalten. Das Gesetz wurde 2009 von beiden Kammern verabschiedet, scheiterte jedoch, da der Senat dem Gesetzentwurf eine Änderung beifügte, welche D.C.s Waffensicherheitsgesetze erheblich untergrub. Das war für die Stimmrechtsunterstützer*innen ein zu hoher Preis.

Auch heute fühlt sich die D.C. Bevölkerung ungerecht behandelt

Im März 2020 wurde vom Senat ein 2,2 Billionen Dollar schweres Corona-Hilfspaket verabschiedet, von dem jeder Staat ein Minimum von 1,25 Mrd. Dollar erhielt; Washington, D.C. bekam jedoch nur 500 Mio. Dollar. Dies verärgerte die Menschen in D.C., da sie eine höhere Bevölkerungszahl als Wyoming und Vermont haben, sowie eine ähnlich große Bevölkerungszahl wie acht weitere Staaten; hinzu kam, dass zu diesem Zeitpunkt die Zahl der Corona Fälle in Washington, D.C. die von 15 anderen Staaten übertraf.

Anfang Juni 2020 setzte die Bundesregierung bei den Anti-Rassismus Protesten im Zuge des Todes von George Floyd in Washington D.C. Sicherheitskräfte aus einer Vielzahl von nationalen Behörden gegen den Willen der Stadtregierung ein. Die lokale Regierung hatte keine Macht, diese Eingriffe zu verhindern, denn die D.C. Nationalgarde wird vom Präsidenten ernannt und kann ohne Zustimmung der Stadtregierung eingesetzt werden; in US-Bundesstaaten liegt diese Macht hingegen beim Gouverneur.

Eigenstaatlichkeit als Lösung

Der Großteil der D.C.-Bevölkerung ist mit der jetzigen Situation unzufrieden. Viele sehen die Eigenstaatlichkeit als einzige Möglichkeit, um im selben Maß wie der Rest der US-Gesamtbevölkerung an der amerikanischen Demokratie teilzuhaben. Die Alternative einer Wiedereingliederung in Maryland wird sowohl von der Bevölkerung in D.C. als auch von der Bevölkerung in Maryland abgelehnt, da zu viele politische und kulturelle Differenzen bestehen. Als eigenständiger Staat jedoch bekäme die lokale Regierung in D.C. volle Autonomie über das lokale Budget und die lokale Gesetzgebung. Zusätzlich könnte die Bevölkerung stimmberechtigte Vertreter*innen für den Kongress wählen. Damit läge die Eigenstaatlichkeit im Interesse der Bevölkerung.

Für die Umsetzung der Eigenstaatlichkeit verfolgt D.C. den sogenannten „Tennessee Plan“. Nach diesem müssen die Bürger*innen zuerst in einem Referendum über die Eigenstaatlichkeit und eine Staatsverfassung abstimmen. Mit dieser Grundlage beantragen sie im Kongress dann die Aufnahme als eigenständiger Staat. Das Gesetz zur Eigenstaatlichkeit muss in beiden Kammern verabschiedet und vom Präsidenten unterzeichnet werden.

In Washington D.C. gab es bereits zwei Referenden zur Eigenstaatlichkeit. Das erste Mal stimmte die Bevölkerung 1982 für die Schaffung des neuen Staates „New Columbia“. Der Gesetzesvorschlag scheiterte 11 Jahre später im Kongress mit einer parteiübergreifenden Mehrheit. Das zweite Referendum folgte 2016, auch hier stimmte eine Mehrheit von 85,8% der Bevölkerung Washington D.C.s für die Eigenstaatlichkeit. Am 26. Juni 2020 wurde zum ersten Mal im Repräsentantenhaus eine Mehrheit mit 232 zu 180 Stimmen (entspricht weitestgehend der Stimmverteilung der Parteien) für die Eigenstaatlichkeit erreicht. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass das Gesetz auch im Senat durchkommt, da aufgrund des Filibusters eine 3/5 Mehrheit benötigt wird und die Republikaner*innen die Eigenschtaatlichkeit ablehnen. Das liegt vor allem daran, dass Dreiviertel der Wähler*innen in Washington D.C. als Demokrat*innen registriert sind und die Demokrat*innen im US-Kongress somit im Zuge einer Eigenstaatlichkeit Washingtons durch mehr Kongressabgeordnete profitieren würden.

Argumente gegen Eigenstaatlichkeit

Das Hauptargument der Republikaner*innen ist, dass Eigenstaatlichkeit gegen die Verfassung verstoße, da diese den Sitz der Bundesregierung in einer bundesstaatlichen Enklave vorsieht. Um dieses Problem zu umgehen, sieht der „D.C. Admission Act“ von 2016 vor, dass eine kleinere Enklave entsteht, die unter anderem das Weiße Haus, das Kapitol, den Obersten Gerichtshof und noch weitere Regierungsgebäude und Denkmäler einschließt, über die der Kongress weiterhin Kontrolle behält und in der außer der Präsidentenfamilie niemand lebt. Das restliche Gebiet würde zum neuen Staat namens „Douglass Commonwealth“ werden, in Gedenken an Fredrick Douglass, einen ehemaligen Sklaven und späteren Abolitionisten aus Washington D.C.

Ein weiteres Argument der Republikaner*innen ist, dass der Distrikt wirtschaftlich nicht stark genug und geografisch zu klein sei, um ein eigenständiger Staat zu werden. Ein Staat braucht eine Mindestbevölkerungsanzahl von 50.000. Nach meiner Recherche bestehen jedoch keine Vorschriften zu einer geografischen Mindestgröße. Wirtschaftlich war D.C. in den letzten Jahren stark und rezessionsresistent, es ist aber unsicher, wie sich die wirtschaftliche Lage D.C.s als Stadtstaat entwickeln würde. Es bestünde die Chance einer städtebaulichen Verdichtung, da D.C. sich nicht mehr an den „Heights of Building Act“ halten müsste, wodurch ein positives Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum erwartet werden kann. Außerdem ergäbe sich die Option, Pendler aus Virginia und Maryland zu besteuern. Risken entstünden durch neue Lasten, die bisher von der Bundesregierung getragen wurden, wie z.B. „Medicare“ (Gesundheitsversorgung für Senioren) und „Medicaid“ (Gesundheitsversorgung für Bedürftige), sowie durch die Kosten für das Gerichtsystem und die Staatsgefängnisse. Das größte wirtschaftliche Risiko bestünde in Krisenzeiten, da D.C. in diesen nicht wie andere Staaten die Möglichkeit hätte, einen Ausgleich zwischen unterschiedlichen Regionen oder Wirtschaftszweigen zu gewährleisten und D.C. als eigenständigem Staat im Falle eines Bankrotts weniger finanzielle Unterstützung vom Bund zustünde.

Fazit

Der Status Quo in Washington D.C. ist zwar historisch nachzuvollziehen, heutzutage allerdings politisch und moralisch nicht mehr vertretbar. Die Bevölkerung in Washington, D.C. ist von wesentlichen demokratischen Prozessen ausgeschlossen: Sie ist im Kongress nicht vertreten und hat keine Legislativ- und nur eine eingeschränkte Budgetautonomie in lokalen Angelegenheiten. Schrittweise mehr Autonomie zu erlangen hat sich als langwieriger Prozess erwiesen und birgt die Gefahr, dass die Bevölkerung nie vollständige Gleichberechtigung erreicht. Eigenstaatlichkeit würde diese Problematik vollständig beheben, ist allerdings auch mit wirtschaftlichen Risiken verbunden.

 


[1] Vgl. Legal Information Institute, Clause 17, aufgerufen am 14.08.2020: https://www.law.cornell.edu/constitution-conan/article-1/section-8/clause-17

[2] Zitiert nach: Vgl. Smith, Walter A.; Hilgers, Jr. Kevin M.: Laboratory Of Democracy: How the District of Columbia is Using the Home Rule Act to Achieve Elements of Statehood. In:  University of the District of Columbia Law Review 2019, Band 21, Aufl. 2, Art. 5, S.108-124.  S.112.