Die State of the Union 2023 – Geschichte, Traditionen und Erwartungen

von David Sirakov

Wenn am kommenden Dienstag, den 7. Februar 2023, Joe Biden ab 21 Uhr US-Ostküstenzeit das vergangene politische Jahr Revue passieren lässt und einen Ausblick auf seine Politikinitiativen der kommenden Monate geben wird, ist es das 99. Mal, dass ein US-Präsident seine Gedanken zur Lage der Nation mitteilt. Grund genug, einen Blick in die Geschichte und Traditionen der State of the Union (SotU) und die zu erwartenden Themen zu werfen.

Rechtlicher Rahmen

Der rechtliche Rahmen der SotU ist – gewohntermaßen – ebenso kurz wie unverbindlich in der US-Verfassung zu finden. In Artikel II, Abschnitt 3, Satz 1 heißt es: „Er (sic!) hat von Zeit zu Zeit dem Kongress über die Lage der Union Bericht zu erstatten und Maßnahmen zur Beratung zu empfehlen, die er für notwendig und nützlich erachtet.“ Eine genaue Regelung zu Zeit, Ort oder auch Format (mündlich, schriftlich) für diesen Bericht gibt es nicht. Vielmehr obliegt die Ausgestaltung der*dem jeweiligen Amtsinhaber*in.

Geschichte, Traditionen und Entwicklungstendenzen

George Washington setzte die historische Präzedenz, als er am 8. Januar 1790 die erste SotU vor beiden Häusern des Kongresses, dem Repräsentantenhaus und dem Senat, mündlich hielt. Dies wiederholte er jedes weitere Jahr seiner Amtszeit. Sein Nachfolger, John Adams, tat es Washington gleich. Dies änderte sich allerdings mit der Präsidentschaft Thomas Jeffersons. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern lieferte Jefferson jedes Amtsjahr einen schriftlichen Bericht. Eine Vorgehensweise, die sich in der Folgezeit zum Standard entwickelte. So gab es zwischen 1801 und 1912 ausschließlich schriftliche SotU. Erst wieder Woodrow Wilson kehrte zur mündlichen SotU zurück, auch wenn seine letzten beiden Berichte (1919 und 1920) wiederum schriftlich erfolgten. Seitdem gab es zwar hin und wieder schriftliche SotU (18, die letzte 1981), der neue Standard ist gleichwohl der ursprüngliche: die mündliche SotU (89, einschließlich 2023). Dazu beigetragen haben auch die technischen Revolutionen. Die erste im Radio übertragene Rede zur Lage der Nation fand 1923 unter Präsident Calvin Coolidge statt, die erste Live-Übertragung im Fernsehen am 6. Januar 1947 mit Harry Trumans ersten mündlichen Ansprache. Seit 1981 hat sich zudem durchgesetzt, dass im Inaugurationsjahr keine SotU gehalten wird, da beide Reden binnen weniger Wochen gehalten und sehr ähnliche Inhalte aufweisen würden.

Der Formatwechsel hin zum mündlichen Bericht hatte auch Auswirkungen auf ihre Länge. Während schriftliche Lagen zur Nation durchschnittlich 10.755 Wörter umfassen, weisen die mündlichen im Durchschnitt lediglich 4.833 auf.[1] Den Rekord hält dabei Jimmy Carter, dessen letzte SotU im Januar 1981 unglaubliche 33.667 Wörter enthielt. Aber nicht nur der Umfang der Reden sank, sondern auch die sprachliche Qualität. Eine Untersuchung der School of Information der University of California, Berkeley, entlang des Flesch-Kincaid Grade Level  zeigt, dass die Rede Woodrow Wilsons aus dem Jahr 1913 mit 15,6 noch das College-Niveau erreichte, es jedoch mit Donald Trumps SotU 2018 auf 8,1, dem Äquivalent für die achte Klassenstufe (Kinder im Alter von 13 bis 14 Jahren) sank. Analysiert man die Rede Trumps 2020 entsprechend, kommt man sogar auf einen Wert von 7,9. Doch damit nicht genug. Joe Bidens erste SotU am 1. März 2022 erreichte nur einen Wert von 7,1. Es wird ganz offensichtlich versucht, das Ziel der Politik, den ‚ordinary American‘ auch und gerade mit der Vereinfachung der verwendeten Sprache zu erreichen.

Die Gäste

Wie Artikel II, Abschnitt 3, Satz 1 der US-Verfassung verdeutlicht, ist Hauptadressat der Rede zur Lage der Nation der Kongress, also das Repräsentantenhaus und der Senat. Traditionell ist zudem der oberste Gerichtshof (Supreme Court), die militärische Führung der USA sowie das jeweilige Regierungskabinett vertreten. Bei Letzterem wird kurz vor der SotU eine Person ausgewählt, die während der Rede an einem geheimen Ort untergebracht ist und im Falle eines Anschlags auf das Kapitol die Regierungsgeschäfte fortführen kann. Diese Person wird gemeinhin als designated survivor bezeichnet.

Hinzu kommen noch Gäste, die durch die*den Präsident*in und/oder seiner*m Partner*in eingeladen werden. In der Regel dienen diese Einladungen auch dazu, den Ausführungen in der Rede im buchstäblichen Sinne ein Gesicht zu geben.

Die Erwiderungen

Der Bericht der*des Präsident*in bleibt nicht unerwidert. Seit 1966 folgt auf die SotU eine Antwort durch die jeweilige Opposition. Damals nahmen die republikanischen Minderheitsführer im Senat Everett Dirksen (R-IL) und im Repräsentantenhaus Gerald Ford (R-MI) die Rede Lyndon B. Johnsons zum Anlass, ihre Sicht auf den Zustand der Nation darzustellen sowie Lösungsvorschläge zu formulieren. Hinzu kommt noch eine zusätzliche Antwort des progressiven Flügels der Demokratischen Partei. Im vergangenen Jahr antwortete die Abgeordnete Rashida Tlaib (D-MI) auf Bidens erste SotU.

Wirtschaft, Post-COVID, Krieg in der Ukraine. Was ist von Joe Bidens zweiten SotU zu erwarten?

Am kommenden Dienstag werden hinter Joe Biden der Sprecher des Repräsentantenhauses, Kevin McCarthy (R-CA), sowie die Präsidentin des Sentas und zugleich Vizepräsidentin der USA, Kamala Harris, Platz nehmen. Es wird die erste SotU Joe Bidens nach den Zwischenwahlen im vergangenen Jahr und damit vor einem gespaltenen Kongress. Während die Demokraten ihre Mehrheit im Senat sogar noch um einen Sitz ausbauen konnten, verloren sie – wenn auch nur knapp – die Mehrheit im Repräsentantenhaus. Damit wird Joe Biden gezwungen sein, seine Agenda auch einer Partei verkaufen zu müssen, deren erklärtes Ziel es ist, ihm das Regieren so schwer zu möglich zu gestalten.

Es ist daher davon auszugehen, dass Biden in seiner SotU an die Erfolge der vergangenen zwei Jahre erinnert, die insbesondere durch die Zusammenarbeit zwischen den Demokraten und Republikanern zustande gekommen sind: Der eine Billion US-Dollar schwere Infrastructure Investment and Jobs Act von 2021 oder auch der in Europa mit Sorge betrachtete Inflation Reduction Act mit einem Umfang von 370 Mrd. US-Dollar aus dem vergangenen Jahr.

Und die Wirtschaftsdaten geben Biden durchaus recht. Die aktuellen Zahlen vom US-Arbeitsmarkt zeigen einen so nicht erwarteten positiven Trend. Nachdem die US-Wirtschaft in den letzten fünf Monaten des vergangenen Jahres nur durchschnittlich 315.000 neue Arbeitsplätze schuf, stieg die Zahl im Januar dieses Jahres auf 517.000. Und auch der Rückgang der Inflation von 9,1 Prozent im Juni 2022 auf 6,5 Prozent im Dezember 2022 wird der Präsident ebenso herausstellen, wie die Erholung der Gesamtwirtschaft nach den zwei Pandemiejahren. Mit dieser Botschaft wird er voraussichtlich auch den momentan schwelenden Konflikt mit den Republikanern über die Anhebung der Schuldenobergrenze ansprechen und an die Verantwortung des gesamten Kongresses appellieren, eine wirtschaftliche Schieflage der USA und unvorhersehbare Konsequenzen für die Weltwirtschaft zu verhindern.

Ein weiterer Aspekt seiner Rede wird die gesellschaftliche Entwicklung in den USA sein. Hier sind die Themen vielfältig. Ein funktionierendes Einwanderungsrecht sucht man ebenso vergebens wie ein die schwächsten der Gesellschaft schützendes Waffenrecht. Hinzu kommt die Polizeigewalt gegen Minderheiten und hier insbesondere gegen Afro-Amerikaner*innen. Deutlich macht dies bspw. die Einladung der Eltern des 29jährigen Tyre Nichols, der von Polizisten während einer Verkehrskontrolle in Memphis, Tennessee, so schwer verprügelt wurde, dass er drei Tage später verstarb. Zudem hat die Abgeordnete Judy Chu (D-CA) mit Brandon Tsay einen Mann eingeladen, der während des Amoklaufs in Monterey Park (CA) den Schützen entwaffnete.

In der Außen- und Sicherheitspolitik wird Joe Biden herausstellen, dass er die USA nach vier Jahren Trump wieder zurück auf die Weltbühne gebracht und sich dies gerade in den Unterstützungsleistungen für den ukrainischen Kampf gegen die russische Invasion deutlich gezeigt habe.

Bleiben noch die Fragezeichen: Es ist eher unwahrscheinlich, dass Joe Biden die in den vergangenen Wochen in seinen verschiedenen Büros und Häusern gefundenen geheimen Regierungsdokumente aus seiner Zeit als Vizepräsident ansprechen wird, auch wenn die Unterschiede zum ähnlich gelagerten Fall von Donald Trump durchaus deutlich sind. Ebenso wenig wird er die SotU dazu nutzen, seine Kandidatur zur Wiederwahl offiziell zu verkünden, auch wenn er in der Formulierung seiner künftigen Politikvorstellungen einen weiteren Horizont als die kommenden zwei Jahre zeichnen wird.

Alles in allem wird es eine interessante SotU, da Biden auf die republikanische Opposition ein Stück weit zugehen muss, um in den kommenden Monaten wichtige Gesetze durch den Kongress zu bringen. Die nur sehr knappe republikanische Mehrheit von fünf Abgeordneten im Repräsentantenhaus könnte dabei für den Präsidenten und die Demokratische Partei eine gute Möglichkeit bieten, die ohnehin zerrütteten Verhältnisse bei den Republikanern zu nutzen.

Nicht zuletzt deshalb wird sich auch der Blick auf die Antworten der Republikanischen Partei sowie des progressiven Flügels der Demokratischen Partei lohnen. Erstere wird durch die neu gewählte Gouverneurin von Arkansas und ehemalige Pressesprecherin Donald Trumps, Sarah Huckabee Sanders, gegeben. Die progressive Bewegung wird durch die neu in das Repräsentantenhaus eingezogene Abgeordnete Delia Ramirez aus Illinois vertreten.


[1] Die Wortanzahl der einzelnen SotU finden sich auf der Website des „The American Presidency Project“ der University of California, Santa Barbara.