Das erste Jahr im Amt: Hürdenlauf für Joe Biden

von Sarah Wagner, M.A.

Am 20. Januar 2021 beschwor Joe Biden in seiner Amtsantrittsrede die Resilienz der amerikanischen Verfassung und die Stärke der Nation, bevor er die für ihn zentralste und dennoch am schwersten fassbare Voraussetzung für die amerikanische Demokratie benannte: Einheit. Nur ein geeintes Land und eine vereinte Bevölkerung seien in der Lage, sich den drängenden Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu stellen. Diese herausfordernden Aufgaben nannte Präsident Biden auch zugleich: Angriffe auf die Demokratie, die Corona-Pandemie, steigende soziale Ungleichheit, struktureller Rassismus, die Klimakrise sowie die Rolle der USA in der Welt forderten das Land zur gleichen Zeit heraus und erforderten ein geeintes Auftreten und Handeln. Wie ist es um diese gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen ein Jahr nach Amtsantritt von Joe Biden bestellt? Was sagen uns aktuelle Daten über die Entwicklung der USA? Und mit welchen Hürden sah sich der Präsident in seiner Arbeit konfrontiert?

Die Umfragewerte

Das erste Jahr im Amt hätte Joe Biden vermutlich gerne mit besseren Umfragewerten gefeiert. Konnte er zu Beginn seiner Amtszeit noch auf die Zustimmung von durchschnittlich 53 Prozent der Amerikaner*innen bauen und lediglich 36 Prozent an Ablehnung verzeichnen, scheinen diese Zahlen nach 12 Monaten nahezu wie ausgetauscht. Im Januar 2022 lehnen 52 Prozent der amerikanischen Bevölkerung die Arbeit von Joe Biden ab, lediglich 42,5 Prozent befürworten seine Arbeit. Die dramatischsten Zahlen lieferte in diesem Monat die Umfrage der Quinnipiac University, laut der lediglich 33 Prozent der Amerikaner*innen die Arbeit von Joe Biden gutheißen. Diese unvorteilhaften Zahlen wollte das Weiße Haus nicht unkommentiert lassen und veröffentlichte ein Memo, in dem die Werte als Ausreißer und nicht repräsentativ deklariert wurden. Vielmehr habe Joe Biden, in Bezug auf die oben genannten Zahlen der Internetseite FiveThirtyEight, Zustimmungswerte von 43 Prozent. Dass sich das Kommunikationsteam von Biden genötigt sah, diese Werte als ein positives Ergebnis verkaufen zu wollen, lässt tief in die Stimmung im Weißen Haus blicken. Nicht nur die Umfragewerte für Joe Biden lassen aus Sicht der Demokratischen Partei zu wünschen übrig. Auch die Partei selbst strauchelt, fragt man amerikanische Wähler*innen, wie sie sich parteipolitisch selbst verorten würden. Anfang 2021 bezeichneten sich laut dem Gallup-Institut 49 Prozent der Amerikaner*innen als „Democrat/lean Democrat“ (Demokrat*in/tendenziell Demokrat*in) und 40 Prozent als „Republican/lean Republican“. Ein Jahr später die Trendwende: 47 Prozent der Befragten verorten sich bei der Republikanischen Partei, 42 Prozent bei der Demokratischen Partei. Präsident und Partei in einer Abwärtsspirale – woran könnte das liegen? In der deutschen (medialen) Wahrnehmung herrschen noch die Bilder der Erstürmung des Kapitols vom 6. Januar 2021 vor, die Verbannung von Donald Trump aus den sozialen Medien und der Versuch der Republikanischen Partei, Joe Biden die Legitimität als rechtmäßigem Präsidenten der USA abzusprechen. Wie lassen sich also die Umfragewerte ansatzweise erklären?

Ein vielversprechender Start

Die Biden-Regierung legte einen ansehnlichen Start hin: der 1,9 Billionen Dollar umfassende American Rescue Plan und das Infrastrukturpaket wurden mit dem Ziel verabschiedet, insbesondere die wirtschaftlichen Konsequenzen der Pandemie (hier vor allem die Arbeitslosigkeit) zu bekämpfen. Die Arbeitslosenzahlen sinken seit Juli 2021 auch weiterhin konstant, im Dezember 2021 lag die Arbeitslosenquote bei 3,9 Prozent. Im Vergleich: Im Februar 2020, vor dem Ausbruch der Pandemie in den USA, lag die Arbeitslosenquote bei 3,5 Prozent. Nicht nur die gesunkenen Arbeitslosenzahlen sind ein Indikator für die erstarkende US-Wirtschaft. Der Finanzmarkt boomt unter Joe Biden, Firmen verzeichnen die größte Gewinnspanne seit den 1950er Jahren, mehr Firmen werden gegründet, die Nachfrage der Verbraucher*innen nach Konsumgütern ist hoch, der Dollar ist erstarkt und das BPI steigt an. Die Finanzspritze durch den American Rescue Plan und der Child Tax Credit, der die Kinderarmut in den USA 2021 halbiert hat, werden als elementar für die wirtschaftliche Entwicklung in den USA eingeschätzt. Rekordzahlen an Amerikaner*innen kündigen zudem ihre Arbeit, um sich auf bessere Stellen zu bewerben, so die Washington Post: „The high quits numbers are a reflection of what is perhaps the most worker-friendly climate in decades, as workers have the ability to sort through near-record levels of job postings, and many employers are hungry to hire. Many employers have moved to raise wages or offer generous signing bonuses to attract employees.“

Die Impfkampagne lief zu Beginn des Jahres erfolgreich an und wurde von vielen Europäer*innen mit Neid beobachtet. Unter der Devise „money in pockets, shots in arms“ feierte die Regierung am 150. Tag nach Amtsantritt 300 Millionen verabreichte Impfungen.

Auf dem internationalen Parkett bemühte sich Joe Biden als überzeugter Transatlantiker, Allianzen zu reparieren, Vertrauen aufzubauen, Handelskonflikte zu entschärfen und die Führungsposition der USA in der globalen Arena wieder zu reaktivieren. Diverse Wiedereintritte in internationale Organisationen und die Wiederaufnahme von internationalen Verpflichtungen (z.B. Pariser Klimaabkommen, Weltgesundheitsorganisation, UN-Menschenrechtsrat) zeugten vom Wunsch der Regierung, wieder als verlässlicher und attraktiver Partner wahrgenommen zu werden. Das Primat der eigenen Politik sollte im ersten Amtsjahr jedoch die Innenpolitik bleiben, angesichts der Pandemie und der gesellschaftspolitischen Polarisierung nicht überraschend.

Innen- und außenpolitische Baustellen

Das Mammutprojekt der Biden-Regierung war somit von Beginn an die Bekämpfung oder zumindest Eindämmung der Corona-Pandemie durch ein umfangreiches Impfprogramm. Am 20. Januar 2021 lag der tägliche Durchschnitt der Inzidenz in den USA bei 195.000 Covid-Fällen. Genau ein Jahr später ist dieser Wert durch eine deutlich infektiösere Omicron-Variante Mitte Januar auf 805.000 Fälle angestiegen. Dementsprechend angestiegen sind auch die Hospitalisierungsrate und die Todesfälle in den USA, das Gesundheitssystem befindet sich in vielen Regionen an der Grenze der Belastbarkeit. Es überrascht also nicht, dass das Pandemie-Management der Regierung von der US-Bevölkerung kritisch gesehen wird: 44,7 Prozent befürworten den Umgang der Regierung mit der Pandemie, 48 Prozent lehnen ihn ab. Ebenso wenig überraschend sind die parteipolitischen Unterschiede in dieser Frage: Knapp 80 Prozent der Demokrat*innen stimmen dem Pandemie-Management von Biden zu, unter Republikaner*innen sind es ganze 13 Prozent.

Ähnlich wie in manch anderen Ländern wurde der Sommer 2021 nicht genutzt, um das Land auf eine weitere Welle der Pandemie bzw. eine neue Variante vorzubereiten. Die Biden-Regierung versäumte es, umsichtig zu planen und sah sich daher zeitgleich mit dem Erstarken von Omicron mit einem enormen Mangel an Masken, Selbsttests und Testzentren konfrontiert. In der ersten Dezemberwoche reagierte Pressesprecherin Jen Psaki noch etwas schnippisch auf die Frage einer Reporterin, warum Selbsttests nicht in dem Ausmaß zur Verfügung stünden wie beispielsweise im Vereinigten Königreich, und konterte mit der Gegenfrage: “Should we just send one to every American?”. Besonders viele Demokratische Wähler*innen reagierten mit Kritik auf die Haltung der Regierung, war man doch frustriert über die teuren und raren Selbsttests in den USA, gerade im internationalen Vergleich und obwohl der American Rescue Plan Milliarden Dollar für eine verbesserte Testinfrastruktur beinhaltete. Kurze Zeit später kündigte Präsident Biden dann einen Umschwung in der Testpolitik an und versprach, die Regierung werde Selbsttests einkaufen und kostenfrei für die Bevölkerung zur Verfügung stellen. Die entsprechende Webseite für Bestellungen ist mittlerweile freigeschaltet worden, der Versand soll bald beginnen. Mittlerweile sollen Amerikaner*innen auch qualitativ hochwertigere Masken zur Verfügung gestellt bekommen. So kommt nun zwar Bewegung in die Pandemiepolitik, doch wertvolle Zeit ist verstrichen und führte zu den hohen Zahlen an Covid-Erkrankungen und Todesfällen. Neben der Pandemie ist es vor allem die wirtschaftliche Lage, die die amerikanische Bevölkerung beschäftigt. Zwar sinken die Arbeitslosenzahlen, die Inflation allerdings steigt im Gegenzug.

Thanksgiving, Weihnachten oder die Neujahrsparty – die Festtage zu Ende des Jahres in den USA verdeutlichten den Amerikaner*innen vor allem eine Tatsache: das Leben in den USA wird deutlich teurer. Laut dem U.S. Department of Labor lag die Teuerungsrate im Dezember bei 7 Prozent. Zwar sanken im Gegenzug die Energiepreise leicht, aber dem vorausgegangen war auch ein deutlich spürbarer Anstieg im Oktober letzten Jahres. Die USA verzeichnen insgesamt die höchste Inflationsrate seit 1982.

Im Vergleich zum Oktober 2020 gab es in den ersten zehn Monaten der Biden-Regierung einen Lohnanstieg von 4,9 Prozent. Verrechnet man diesen Anstieg allerdings mit der Inflation, ergibt sich für die US-Bevölkerung eine Reallohnentwicklung von durchschnittlich Minus 1,2 Prozent. Die Stimmung der Verbraucher*innen ist dementsprechend düster, die Sorge um die Inflation und die eigenen Rechnungen beschäftigen die Menschen in den USA mehr als die Pandemie. Auch die Probleme in der globalen Lieferkette und Bilder von leeren Regalen, teils bedingt durch die hohe Nachfrage, sorgten für Unruhe in der Bevölkerung – das Bild einer kränkelnden Wirtschaft verfestigte sich in den Köpfen und Umfragen, auch wenn die Realität komplexer ist. Ein weiteres Problem ist die steigende soziale Ungleichheit in den USA, die auch der ehemalige Herausforderer von Joe Biden, Senator Bernie Sanders, unermüdlich betont. Für ihn ist die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der amerikanischen Arbeiterklasse zentral, nur so könne gesellschaftlicher Frieden und auch die politische Zukunft der Demokratischen Partei gesichert werden: „The Democrats have to make clear that they’re on the side of the working class and ready to take on the wealthy and powerful. That is not only the right thing to do, but I think it will be the politically right thing to do.”

Außenpolitisch barg die zweite Jahreshälfte ebenso Herausforderungen für die Administration. Der dramatische und unkoordinierte Abzug der US-Truppen aus Afghanistan ließ die Regierung, die sich zu Beginn des Jahres mit einem Kader an erfahrenen Außenpolitiker*innen gerühmt hatte, nahezu dilettantisch auf der internationalen Bühne erscheinen und auch innenpolitisch warfen die Szenen am Kabuler Flughafen ein schlechtes Bild auf die Arbeit der Biden-Regierung. Die amerikanische Bevölkerung befürwortet zwar den Truppenabzug aus Afghanistan, allerdings war man von der Art und Weise des überhasteten Abzugs nicht ansatzweise überzeugt. Die Prämisse von Joe Biden, dass erfahrene Politiker*innen, gerade im Vergleich mit dem Team der Trump-Regierung, mehr Stabilität und Professionalität in der Außenpolitik garantieren können, wurde fundamental in Frage gestellt.

Die Hürden im System

Joe Biden und das Amt des Präsidenten sind natürlich nur ein Teil des größeren politischen Puzzles. Die Republikanische Partei und deren Opposition und Obstruktion der Regierungsarbeit spielen ebenfalls eine große Rolle. Die sich zusehends radikalisierende Partei vertritt selbstbewusst die „große Lüge“ der gestohlenen Wahl 2020, ganze 58 Prozent der Republikaner*innen sehen die Wahl von Joe Biden als illegitim an und 62 Prozent glauben, dass es solide Beweise für eine weitverbreitete Wahlfälschung gäbe. Dieses offene Misstrauen gegenüber demokratischen Wahlen und deren Ergebnissen ist natürlich auch ein enormes Problem für die Demokratie, deren Funktionieren von einem grundsätzlichen Vertrauen in politische Institutionen abhängt. Die Republikanische Partei entfernt sich jedoch zusehends von der politischen Realität und scheint Wahlergebnisse lediglich anerkennen zu wollen, wenn sie Zugunsten der eigenen Partei ausgehen. Innerhalb der Partei wird die Lüge der gestohlenen Wahl für die Mobilisierung der eigenen Basis genutzt, ist aber gleichzeitig auch ein Lackmustest für gegenwärtige und zukünftige Parteipolitiker*innen. Auch die Einschätzung der Erstürmung des Kapitols am 6. Januar 2021 unterscheidet sich deutlich von der Demokratischen Bewertung der Ereignisse.

Die größte Herausforderung für Joe Biden ist jedoch die eigene Partei. Sein großes legislatives Paket, der Build Back Better Act, sollte der krönende Abschluss des ersten Amtsjahres und ein Meilenstein in der Sozial- und Klimapolitik der USA darstellen. Doch das Projekt ist vorerst auf Eis gelegt, bedingt nicht etwa durch den progressiven Flügel der Partei, sondern durch die Senator*innen aus West Virginia und Arizona, Joe Manchin und Kyrsten Sinema. Aufgrund ihrer hauchdünnen Mehrheiten sind die Demokraten vor allem im Senat auf jede Stimme angewiesen, einzelne Senator*innen sind sich dessen bewusst und können, wie im Falle von Build Back Better, große Projekte nahezu problemlos ausbremsen. Die Regierung will die Gespräche über eine gekürzte Version des Plans wieder aufnehmen mit dem Ziel, zumindest die Regelungen für die Klimapolitik zu retten, auch wenn dies Kürzungen in den geplanten Sozialausgaben bedeuten würde.

Ein weiteres Projekt, die Verabschiedung einer Wahlrechtsreform, hängt ebenfalls in der Schwebe. Hieran entzündete sich in der Partei zudem die Diskussion, ob strukturelle Reformen im Senat – wie z.B. eine Abschaffung oder Änderung des Filibusters – nötig seien, um eigene Gesetzespakete umsetzen zu können. Und auch hier sieht sich Joe Biden mit der Opposition aus der eigenen Partei in Gestalt von Manchin und Sinema konfrontiert. Das legislative Dilemma fasst die New York Times so zusammen: „The push to proceed even in the face of almost certain failure reflects the party’s conundrum, facing two key defections in its ranks and a wall of Republican opposition.“ Das Ziel von Joe Biden, die Demokratie zu schützen, ist somit noch in weiter Ferne. Und das, obwohl 64 Prozent der Amerikaner*innen die US-Demokratie in der Krise und in Gefahr sehen. Insbesondere die Schwarze Stammwählerschaft der Demokraten und die aktivistischen Gruppierungen im Umkreis der Partei pochen auf eine weitreichende Wahlrechtsform. Das Scheitern des George Floyd Justice in Policing Act im Kongress, eine angestrebte Polizeireform, und auch das gebrochene Wahlversprechen von Biden, in den ersten 100 Tagen eine nationale Aufsichtskommission für die Polizei zu kreieren, sind eine zusätzliche Frustration für Demokratische Wähler*innen.

Fazit

Es war somit ein bewegtes Jahr für Joe Biden und die US-Bevölkerung, geprägt von der Pandemie, parteipolitischen Grabenkämpfen und einer knappen Mehrheit für die Demokraten im Kongress. Zehn Monate vor den Zwischenwahlen kämpft das Weiße Haus angesichts der Umfragewerte um diese Mehrheit, traditionell und insbesondere angesichts der aktuellen Entwicklungen scheint ein Machtverlust im Herbst wahrscheinlich. Die Hoffnung der Partei ruht auf einer entspannteren pandemischen Lage im Sommer und einer sinkenden Inflation.

Im Weißen Haus herrschen innen- und außenpolitisch seit Januar 2021 neue Umgangsformen und ein neuer Umgangston – auch das ist wichtig und sollte nach den vorangegangenen vier Jahren nicht als gegeben angesehen werden. Allerdings hat das Jahr auch deutlich gezeigt, wie begrenzt die Macht des Präsidenten im politischen System der USA oft ist. Dennoch liegt es letztendlich an ihm, die eigene Partei zu einen, Mehrheiten für seine Vorhaben zu finden und diese der US-Bevölkerung zu vermitteln. Damit kämpft Joe Biden momentan. In seiner Partei und der Bevölkerung macht der anfängliche Enthusiasmus über den Wahlsieg einer allgemeinen Ernüchterung Platz. Die Zuversicht, das Land einen zu können, wird Joe Biden vermutlich nicht aufgeben. Die nächsten drei Jahre werden zeigen, ob er diesem Anspruch gerecht werden kann.